Donnerstag, 27. Juli 2006
Deutschstunde mit Albert F.


Wer laengere Zeit im Ausland zubringt, entwickelt ein besonderes Gefuehl fuer die Heimat... Tatort, Brot, Huettenkaese... - das sind die Dinge, die man fuerchterlich vermisst.
Und dann gibt es natuerlich auch Dinge, die man nicht vermisst, die man laengst gluecklich vergessen hat.
Und dann kommt man irgendwann zurueck - und dann springt er einen an, der lange Schatten der Gegenwart...

1.
Im Taxi vom Flughafen faengt es an und es hoert nie wieder auf. - Reggae, Reggae, Reggae in allen Arten, Sprachen und Varianten... Ragga, Muffin, soft, hart.... you name it...
Und das Lustigste: Woanders gibt´s das garnicht. Nirgendwo auf der gesamten Welt wird Reggae so geliebt wie in Deutschland - ausser vielleicht auf Jamaika und in Holland (und dort bekanntermassen wegen des Dauerkonsums von kontrollierten Substanzen).
Ehrlich: auch deutscher Pop wiegt uns zu 85% im Reggae-Rythmus!!! - Das hoert man aber erst, wenn man es eben mal ne ganze Zeit nicht hoeren musste.
Irrsinnig.

2.
Das Zweite, was einem sofort auffaellt, wenn man wieder Zuhause ist, ist die absolute, die vollkommene, die schonungslose Freizeitorientierung. - Wer haette das gedacht?! Ich nicht.
Der frische Blick zeigt uns, dass sich alles Berufliche auf dem Rueckzug befindet - und dass es nur noch um Freizeitautos, Freizeithaeuser und Freizeitkleidung geht (- auch wenn letztere im Ausnahmefall schon mal wie Berufskleidung aussehen mag).
Eines ist vollkommen klar: Genuss und Selbsterfuellung sind der Dreh- und Angelpunkt deutschen Lebensgefuehls.
Der Deutsche wird locker - koennte man meinen... Stimmt aber nur bedingt, denn jetzt wird die Freizeit ernst genommen. Selbstverwirklichung ist vom schoenen Hobby zum Hauptberuf geworden...
Aber Vorsicht!!! - Was passiert, wenn man die Freizeit zu ernst nimmt? - Das kennen wir aus "Desperate Housewives": Verlust aller Massstaebe, Neurosen und ein Leben in mehr oder weniger gut kaschierter Dauerdepression... (!!!)
so ist das.

3.
Ok - und das dritte typisch Deutsche ist unsere Selbstgefaelligkeit. - Ja, ich weiss, Selbstgefaelligkeit ist eigentlich was Cooles... Und auch gegen Harald Schmidts Sueffisanz ist rein aesthetisch ueberhaupt nichts zu sagen... klar.
Aber: unsere Art, alles und jeden flott in Gutsherrenmanier zu be/verurteilen, mag Witz und Unterhaltungswert haben, ist aber fortschrittskulturell leider die komplette Bremse.
Jede kleine Neugierde und jedes Experiment mit ewig gueltigen Urteilen runterzubuegeln, macht Spass, entspricht unserem Naturell und unserem Hang zum Absoluten ... und wird schnell besonders haesslich, wenn es die duenne Grenze zur Missgunst streift. "Ich hab Dir das gleich gesagt. - Das seh ich ganz klar. - Ich glaube nicht."
Alles wissen. Alles kennen. Nichts goennen.
Ganz ehrlich: Sueffisanz ist ein suesses Gift. Und eines, das man in Deutschland leicht ueberall schmeckt, wenn man ihm einmal entwoehnt war.

Was lernen wir daraus?
Wir lernen, dass wir uns alle in weniger Selbstgefaelligkeit und in weniger Freizeitorientierung ueben sollten, und dass wir weniger Reggae-Musik hoeren muessen.
Genau.
Deshalb fang ich dann schon mal mit weniger Reggae-Musik an.

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